Die DIN-Norm 33430
Der TÜV des Geistes
oder: Versuch der Normung des
Nicht-Normbaren
oder: Von Menschen und Dampfkesseln
Die DIN-Norm 33430 (herausgegeben
vom Deutschen Institut für Normung) wurde im Juni 2002 veröffentlicht
und stellt eine erste Norm im Bereich sozialer Dienstleistungen
dar.
Diese neue Norm soll Qualitätssicherung im Bereich von berufsbezogenen
Eignungsbeurteilungen, von Einstellungsverfahren und Einstellungstests
leisten.
Die Initiative zu einer solchen Standardisierung in Form
einer DIN-Norm kam von den Psychologenverbänden, die es als
ihre Aufgabe ansahen, den Personalauswahlprozeß von vielen
"Unzulänglichkeiten, subjektiven Verfälschungen
und amateurhaften Ansätzen" zu befreien.
Die Ziele der Norm
Die Initiatoren der Norm gehen davon aus, daß sich durch
eine Standardisierung auf einem der Norm entsprechendem Niveau
die Personalauswahl wesentlich verbessern und optimieren läßt.
Diese neue Norm soll Qualitätssicherung im Bereich von berufsbezogenen
Eignungsbeurteilungen, von Einstellungsverfahren und Einstellungstests
leisten, indem sie beschreibt:
- wie Eignungsbeurteilungen zu planen und durchzuführen
sind,
- welche Qualifikationsanforderungen die beteiligten Personen
besitzen sollen,
- welche formalen Voraussetzungen geeignete Verfahren zur Eignungsbeurteilung
erfüllen müssen.
In der Konsequenz hat die Norm Auswirkungen auf:
- alle an den Verfahren beteiligten Personen
- alle eingesetzten Verfahren
Im einzelnen betrifft die Regelung vor allem die folgenden Bereiche:
- Instrumente und Methoden der Personalauswahl;
- sie legt Regeln für die Durchführung des Auswahlprozesses
fest;
- für an der Auswahl beteiligte Personen werden besondere
Qualifizierungsansprüche festgestellt (man geht von einem
mindestens 10-tägigen Schulungsbedarf pro Mitarbeiter aus);
- Prozesse und Vorgehensweisen werden beschrieben;
- Objektivität und Validität werden näher bestimmt.
Was will man konkret?
Wer sich den Text der DIN-Norm 33430 einmal selbst zu
Gemüte führen möchte, kann dies tun. 25 Seiten
erhält man für 50 € - ein Schelm, wer hierin eine
symbolische Vorwegnahme zu erwartender preislicher Anpassungen
bestehender Tests und Auswahlverfahren vermutet.
Immerhin fällt beim Lesen der einzelnen Passagen eine grundlegende
Schwierigkeit auf.
Dort findet man zum Beispiel Aussagen wie diese:
„In den Verfahrenshinweisen für standardisierte Verfahren
zur Eignungsbeurteilung müssen: die Zielsetzungen und Anwendungsbereiche
benannt werden, relevante empirische Untersuchungen nachvollziehbar
beschrieben werden, Konstruktionsschritte in angemessener, ausführlicher
und verständlicher Weise dargestellt werden, …“
„Die zur Eignungsbeurteilung eingesetzten Verfahren müssen
eine größtmögliche Durchführungs-, Auswertungs-
und Interpretationsobjektivität besitzen.“
„Die eingesetzten Verfahren müssen eine der jeweiligen
Art des Verfahrens und der angestrebten Aussage entsprechende
hohe Zuverlässigkeit aufweisen.“
Wann ist eine Untersuchung nachvollziehbar gestaltet?
Wann ist etwas angemessen? Was genau ist eine hohe Zuverlässigkeit?
Was ist eine größtmögliche Interpretationsobjektivität?
Nur ganz vereinzelt findet man Konkretes in der Beschreibung
der neuen Norm.
- Die Reliabilität (Zuverlässigkeit, mißt z.
B. inwieweit ein Test oder eine Methode im Wiederholungsfalle
zu gleichen Ergebnissen kommt) soll zwischen 0.75 und 0.8 liegen
(1.0 ist der höchste zu erreichende Wert, aber praktisch
nicht möglich).
- Die Validität (Aussagekraft, sagt etwas darüber
aus, ob der Test auch wirklich mißt, was er messen soll)
soll zwischen 0.3 und 0.55 liegen.
Unschärfeprobleme
Über die Problematik und die Aussagekraft von Reliabilitäts-
und Validitätkoeffizienten kann man trefflich disputieren.
Es ist immer wieder umstritten, warum einem Test zum Beispiel
eine Validität von 0.45 beigemessen wird. Hinter einer solchen
Zahl, die man eigentlich nie als absolut begreifen darf, verbirgt
sich zumeist ein komplexes Konglomerat mehr oder weniger willkürlicher
Festlegungen, Zuordnungen und Entscheidungen. Auch bei solchen
Validitätszahlen sind subjektive Momente nie völlig
auszuschließen. Was einem als "objektiv" verkauft
wird, ist nie völlig frei vom Subjektiven und immer bis zu
einem gewissen Maß gleichsam schicksalhaft davon durchsetzt.
Soziale Erwünschtheit (SE), "Social Deception",
Selbsttäuschung und Moderatoreneffekte sind in den Auswahlprozeß
eingreifende Momente, die den Traum vom "objektiven"
Test oder "objektiven" Verfahren ewig Traum bleiben
lassen.
Es ist von daher kein Wunder, daß die Norm 33430,
wie oben beschrieben, über weite Strecken, ja nahezu gänzlich,
schwammig bleibt und im Morast des Ungefähren versinkt. Man
wird auf Formulierungen geworfen, die der Interpretation bedürfen.
Die Formulierungen sind also recht allgemein und offen
gehalten. Begriffe wie angemessen und nachvollziehbar
sind ihrem Wesen nach zutiefst subjektiv. In der Konsequenz bedeutet
dies, daß die DIN-Norm interpretiert werden muß. Da
nun nicht festgelegt ist, wer in dieser Hinsicht die Interpretationshoheit
hat, ist unter Umständen folgendes Szenario absehbar: Es
kommt irgendwann zu Abmahnungen, Klagen und Musterprozessen, bis
allmählich auf der Grundlage eines Gemenges gutachterlicher,
richterlicher und situativer Gegebenheiten ein prototypisches
Konglomerat entsteht.
Rechtliche Folgen
Die DIN-Norm 33430 ist eine freiwillige
Norm, sie gehört zum gesetzlich nicht geregelten Bereich.
Jeder Anbieter kann also ab sofort auf seine Fahne schreiben
„Wir arbeiten nach DIN 33430“ – er muß
niemanden um Erlaubnis fragen. Und damit beginnt schon das Problem.
Tut dies nämlich eine Firma, so ergeben sich daraus möglicherweise
wettbewerbsrechtliche Konsequenzen. Werden Verstöße
sichtbar, können Abmahnungen erfolgen – Dies wohlgemerkt
nur dann, wenn man vorher erklärt hat, nach DIN 33430 zu
arbeiten.
Die Festlegung der Regeln zur Interpretation der Verfahrensergebnisse
und zur abschließenden Beurteilung erfolgt nach den Regeln
der Norm durch den verantwortlichen Auftragnehmer; sie kann
nicht an Mitwirkende delegiert werden.
Das heißt nichts anderes, als daß der Entscheider
letztlich nicht mehr der Entscheider im klassischen Sinne ist.
Er delegiert mit der Übernahme der DIN-Norm alle Kompetenzen
an den Auftragnehmer, an den Durchführer des Tests, was auch
durch eigene entsprechend qualifizierte Mitarbeiter erfolgen kann.
Sollte er letztlich mit einem Mitarbeiter nicht einverstanden
sein, der bei dem zertifizierten Testverfahren entsprechend gut
abgeschnitten hat, gibt es im Grunde kein Zurück mehr.
Wenn also das nach DIN-Norm zertifizierte Verfahren
zum Beispiel den Bewerber X als bestens geeignet ausgibt, der
Hauptpersonaler aber bei jener Person ein ungutes Gefühl
hat, so ist das nunmehr unerheblich. Das wohlbegründete Unbehagen,
die Erfahrungswerte, die Menschenkenntnis - all das spielt keine
Rolle und verliert nunmehr an Einfluß auf das Auswahlgeschehen.
Und sollte man dennoch seinem Gefühl, seiner Erfahrung und
Intuition folgen, riskiert man, wenn man jenen nach DIN-Norm offensichtlich
Qualifizierten denn schließlich doch ablehnt, dessen nachfolgende
Klagen, weil der Betroffene zurecht einen Verstoß gegen
die DIN-Norm erkennt und möglicherweise unschwer nachweisen
kann.
Stellt sich heraus, daß ein für die Personalauswahl
beauftragtes Unternehmen oder ein nach DIN zertifizierter Test
unter Umständen nicht tatsächlich der Norm entspricht
und also nicht ist, was es oder er vorgibt zu sein, so kann auch
dies wiederum rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Möglicherweise
klagen nicht berücksichtigte Bewerber. Es ist ja durchaus
bekannt, daß im AC Unterlegene des öfteren anschließend
gegen die durchführende Firma feindlich eingestellt sind.
Erschwerend kommt in diesem Zusammenhang die oben beschriebene
Unschärfe der Norm hinzu, die Klagen insgesamt wahrscheinlicher
machen könnte, da schwammige Begriffe erfahrungsgemäß
ein weites Spektrum der Befindlichkeiten erfassen.
Scharfe Kritik aus der Wirtschaft
Zu den größten Kritikern der neuen Norm gehört
der Verband Deutscher Arbeitgeber (BDA).
Der BDA sieht in der DIN-Norm 33430 nur eine weitere
Regulierung des ohnehin schon überregulierten, deutschen
Arbeitsmarktes. Weiterhin kritisiert man, daß der Anwendungsbereich
der Norm sich nicht, wie ursprünglich vorgesehen, auf psychometrische
Testverfahren bezieht, sondern alle Verfahren der berufsbezogenen
Eignungsdiagnostik, inklusive Assessment Center und Interview,
umfaßt. In der Stellungnahme des BDA findet man Aussagen
wie diese:
"In den Betrieben besteht für eine Norm, die berufliche
Eignungsdiagnostik
zu regeln versucht, überhaupt kein Bedarf."
"Unakzeptabel sind die normativen Festlegungen von geforderten
Qualifikationen der an den Verfahren beteiligten Personen (Punkt
4 ) : Die dort angegebenen Kenntnisse erinnern eher an die Inhalte
eines Fachseminars für Betriebspsychologen."
"Die Qualität der Personalauswahl hängt nicht
ausschließlich von der
wissenschaftlichen Güte des angewendeten Verfahren ab.
Auch andere teilweise subjektive Komponenten und Erfahrungswerte
spielen hierbei eine Rolle."
"Aus den oben genannten Gründen halten wir unseren
Einspruch aufrecht. Wir behalten uns weitere Schritte vor und
werden unsere Mitgliedsverbände und Unternehmen ausdrücklich
vor der Anwendung der Norm warnen, ..."
Das Problem der Objektivität
Die DIN-Norm 33430 trägt einen Grundwiderspruch der klassischen
Testtheorie vor sich umher, der immer wieder nach außen
drängt. Man will etwas objektivieren, das nicht objektivierbar
ist: Die Persönlichkeit eines Menschen, den Charakter, seine
persönlichen Eigenarten, seine Vorlieben, Neigungen und Aversionen,
seine Schwächen und Stärken, all das, was seine Individualität
ausmacht, das Subjektive also. Man will das Subjekt aus wissenschaftlichem
Interesse zum Objekt erheben.
Die DIN-Norm will etwas zertifizieren, das seinem Wesen nach
nur ungefähr beschreibbar, aber nicht exakt erfaßbar
ist. Wenn ich einen Dampfkessel zertifiziere, ist das kein Problem.
Es läßt sich recht einfach berechnen, wie ein Kessel
gearbeitet sein muß, damit er einem gewissen Druck standhält.
Nachvollziehbarerweise war die Normung der Dampfkesselproduktion,
nachdem es aufgrund mangelhafter Fertigung zu verheerenden Explosionen
gekommen war, die Geburtsstunde des DÜV (Dampfkesselüberwachungsverein),
der dann zum TÜV wurde.
Läßt sich aber beim Menschen berechnen, wie seine
Persönlichkeit beschaffen sein muß, damit sie einer
konkreten Streßsituation gewachsen ist?
Die Testpsychologie scheint dieser Illusion nachzuhängen.
Sie suggeriert mit den Begriffen „objektive Tests“
oder „objektives Testverfahren“, daß das Subjektive,
die Persönlichkeit eines Menschen, objektiviert werden können.
Aber die Idee, das Subjekt zu objektivieren, ist eine Wunschgeburt.
Wäre das möglich, hätten wir nicht nur eine wissenschaftliche
Sensation vor uns. Der Mensch wäre auch im wahrsten Sinne
des Wortes entzaubert, gänzlich nach außen offen, seiner
Subjektivität beraubt und nicht mehr Herr seiner selbst.
Das Subjekt hätte aufgehört zu existieren. Es könnte
keine Geheimnisse mehr geben, keine Lüge, keinen Selbstbetrug,
weder Täuschung noch Rücksichtnahme. Aber das ist natürlich
eine Illusion.
Nach wie vor ist eine Lüge nicht einfach zu enttarnen und
unter Umständen überhaupt nicht. Eine Lügenskala
in einem Persönlichkeitstest ist nie ein Garant für
das, was sie verspricht. Ob jemand eher extravertiert oder introvertiert
ist, muß nicht nur von der jeweiligen Definition jener Persönlichkeitsdimension
abhängig gemacht werden, es ist auch nie gänzlich objektiv
bestimmbar.
Gleiches gilt für weitere sogenannte „Traits“
(Eigenschaften), die man gerne herausfinden möchte wie Offenheit,
Dominanz, Sorgfalt, Loyalität und Selbstdisziplin. Auch diese
Strukturen der Persönlichkeit sind nie völlig objektiv
faßbar, und das, was am Ende mittels eines Tests oder eines
standardisierten Auswahlverfahrens herauskommt, kann allenfalls
eine von subjektiven Momenten durchsetzte Annäherung sein.
Daß man jene Verfahren, heutzutage in vielfältiger
Form daherkommend, als objektiv bezeichnet, ist im Grund eine
Irreführung, die ein wenig an alchemistische Versuche erinnert.
Paradoxerweise basieren die meisten Persönlichkeitstests
auf Selbstbeschreibungen oder Darstellungen von Befindlichkeiten.
Wie kann man davon ausgehen, daß auf Fragen wie
„Wechselt Ihre Stimmung oft?“
oder
„Sind Ihre Gefühle leicht verletzt?“
objektiv geantwortet wird?
Wie kann man eine solchen Test objektiv nennen?
In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, daß
es gerade die Vertreter der universitären Persönlichkeitspsychologie,
der klassischen Testtheorie und mithin jene Vertreter und Produzenten
"objektiver Tests" sind, die zu den Initiatoren der
neuen Norm gehören.
Moderne Teufelsaustreibung
Es erinnert schon ein wenig an archaische Zeiten, wenn
man die Zielrichtung der Norm einmal genauer anschaut. Man will das Unbegreifbare begreifbar machen, indem eine Definition,
eine Norm erschaffen wird, die für erklärbar erklärt,
was erklärbar sein soll. Der Teufel, das sind zum Beispiel
die subjektiven Komponenten und Erfahrungswerte, das ist die Welt
der Praxis, die sich nicht in den Bastelschrein der Elfenbeinturmmentalität
einpassen läßt. Die universitären Sandkastenspiele
wollen sich also in einer Art elitärer Bastelstunde zur selbstgeschaffenen
Realität verdichten. Die Theorie will sich über die
Praxis erheben. Einige Semester Psychologie werden schließlich
höher bewertet als jahrelange Praxiserfahrung, die am Ende
kaum noch etwas Wert sein soll.
Fakt ist:
Es gibt nicht eine wissenschaftliche Untersuchung, die nachweisen
könnte, daß ein beliebiger Test X dem Testverfahren
Y in der konkreten Einzelfallsituation überlegen ist.
Es gibt ebenso keine einzige Untersuchung, die belegen
könnte, daß die Menschenkenntnis des Personalers X
dem komplexen Testverfahren Y in einer konkreten Auswahlsituation
unterlegen ist.
Es gibt keine Untersuchung, die zweifelsfrei dokumentieren
könnte, daß Intuition, Vorstellungskraft, Erfahrung
und Situationsgefühl eines bestimmten Personalfachmanns nicht
aussagekräftig, nicht richtungsweisend und nicht
valide ist.
Trotzdem aber will man all diese Momente subjektiver Einschätzung
aus dem Auswahlverfahren eliminieren. Es scheint, als wolle man
den Erfahrungsschatz der im Personalbereich Arbeitenden als unnützes
Beiwerk eliminieren und nur noch das vermeintlich Objektive gelten
lassen.
Die Beurteilung der Körpersprache, von Gestik und
Mimik also, die Einschätzung nach dem bloßen Eindruck, die
zwischen allen Menschen wirkende Sympathetik, charismatische Momente,
all das, was im Interview zwischen Einstellendem und Bewerber
eine Rolle spielt - hinweg damit, weil nicht sein kann, was nicht
sein darf. Als Teufelswerkzeug scheint dies alles jenen, die nur
gelten lassen wollen, was irgendwie meßbar, wägbar,
valiabel und reliabel ist. In der Denkhöhle des Positivismus
findet nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit Platz. Alles nicht
Meßbare, nicht bestimmten naturwissenschaftlichen Kategorien
Zuordnungsbare, wird scheinbar willkürlich ausgeblendet, wird zum Bestandteil
der Black-Box - weil es scheinbar dem Weltbild widerspricht.
Die DIN-Norm 33430 wird schon deshalb scheitern, weil sie nie dem ganzen Menschen gerecht werden kann, und der ist nun einmal zuallererst selbst Subjekt. Ihn allein auf den Output, auf das Meßbare und Wägbare zu reduzieren, wird nie dem Mehr, dem unbestimmbaren Rest gerecht, der nun eben auch und möglicherweise sogar vor allem die Persönlichkeit ausmacht.
"Geheimnisvoll am lichten
Tag
läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
das zwingst du ihr nicht ab,
mit Hebeln und mit Schrauben."
Goethe, Faust I
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